Russische Truppen und ukrainische Armee liefern sich Kämpfe um Kiew
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Hauptstadt Kiew erreicht: Nach Angaben des ukrainischen Militärs rückten die russischen Truppen am Freitag vom Nordosten und Osten her auf die Hauptstadt vor. Zehntausende Ukrainer flohen angesichts der Gewalt in die Nachbarstaaten. Die EU beschloss gezielte Sanktionen gegen Kreml-Chef Wladimir Putin und seinen Außenminister Sergej Lawrow. Die Nato kündigte die Entsendung tausender Soldaten an die Ostflanke an.
Bereits am frühen Morgen griff die russische Armee Kiew erneut aus der Luft an, wenige Stunden später waren im Obolonsky-Bezirk der Hauptstadt Explosionen und Schüsse zu hören. Den ganzen Tag über ertönte in Kiew Sirenenalarm, das Regierungsviertel war von gepanzerten Fahrzeugen und Soldaten mit Maschinengewehren umstellt. Auch weitere ukrainische Regionen standen am Freitag unter Beschuss.
Russlands Staatschef Putin richtete sich in einer Fernsehansprache direkt an die ukrainische Armee und forderte sie zum Sturz Selenskyjs auf. "Nehmt die Macht in Eure Hände", sagte er. Die ukrainische Regierung bestehe aus "Terroristen", einer "Bande von Drogenabhängigen und Neonazis".
Außenminister Lawrow sagte, Moskau sei zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit - sofern die Regierung in Kiew sich ergebe. Ziel der russischen "Militäroperation" sei es, die Ukrainer zu "befreien". Die US-Regierung sprach von "keinem echten" Gesprächsangebot. Wenn Moskau Diplomatie wolle, müsse es seine Truppen aus der Ukraine abziehen, sagte Außenamtssprecher Ned Price.
Selenskyj reagierte auf die jüngsten Drohungen aus Moskau mit einem selbstaufgenommenen Video, das ihn mit weiteren Regierungsvertretern vor dem Präsidentenpalast zeigte. "Wir sind alle hier, um unser Unabhängigkeit und unser Land zu verteidigen", sagte Selenskyj. Zuvor hatte der jüdische Staatschef die russische Invasion mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 und die darauffolgende Besetzung der Ukraine verglichen.
Den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung bezeichnete Selenskyj als "heldenhaft". Andere Europäer mit Kampferfahrung rief er dazu auf, den Kampf seines Landes zu unterstützen.
Nach eigenen Angaben telefonierte Selenskyj am Freitag erneut mit US-Präsident Joe Biden. In dem Telefonat sei es um "verstärkte Sanktionen, konkrete Verteidigungsunterstützung und eine Anti-Kriegs-Koalition" gegangen, twitterte er.
Russland hatte am Donnerstagmorgen mit einem Großangriff auf die Ukraine begonnen. In mehreren Städten schlugen Raketen oder Artilleriegranaten ein. Russische Bodentruppen waren anschließend binnen weniger Stunden bis in den Großraum Kiew vorgedrungen. Am ersten Tag der Kämpfe waren nach Angaben Kiews 137 Menschen getötet und hunderte weitere verletzt worden. Nach Angaben des Verteidigungsministeirums wurden zudem 2800 russische Soldaten getötet. Moskau machte zu der Opferzahl auf russischer Seite bislang keine Angaben.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR verließen in den 48 Stunden nach Beginn des Einmarsches bereits mehr als 50.000 Menschen die Ukraine. Die meisten von ihnen seien nach Polen oder Moldau geflohen, erklärte UNHCR-Chef Filippo Grandi.
Als Reaktion auf den russischen Krieg in der Ukraine beschloss die Nato einen deutlichen Ausbau ihrer Präsenz an der Ostflanke. Die Verbündeten hätten ihre Verteidigungspläne aktiviert und würden infolgedessen mehr Kräfte für die Eingreiftruppe Nato Response Force (NRF) bereitstellen, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag nach einem virtuellen Krisengipfel.
Laut Stoltenberg gehören dazu die Entsendung von tausenden Soldaten und von über 100 Kampfjets, die an 30 Orten in höchste Alarmbereitschaft versetzt würden. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) kündigte die Stationierung einer Kompanie der Bundeswehr in der Slowakei an.
Westliche Staaten brachten unterdessen weitere Sanktionen gegen Russland auf den Weg. Die EU beschloss am Freitag gezielte Strafmaßnahmen gegen Putin und Lawrow. Der Außenbeauftragte Josep Borrell sprach vom "härtesten" Sanktionspaket, "das jemals beschlossen wurde". Auch die britische Regierung ordnete das Einfrieren aller Vermögenswerte Putins und Lawrows an.
Nicht einigen konnte sich die EU auf den unter anderem von Selenskyj und dem britischen Premierminister Boris Johnson geforderten Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift. Deutschland gehört zu den wichtigsten Gegnern einer solchen Maßnahme in der EU.
(C.Fournier--LPdF)