IStGH erlässt Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant sowie Hamas-Militärchef Deif
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat Haftbefehle gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant sowie Hamas-Militärchef Mohammed Deif erlassen. Ihnen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen, wie das in Den Haag ansässige Gericht am Donnerstag mitteilte. Netanjahu wies den Haftbefehl gegen ihn als "absurd" zurück. Während die US-Regierung die Entscheidung scharf verurteilte, rief der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell alle EU-Staaten dazu auf, "die Gerichtsentscheidung umzusetzen".
Der Haftbefehl gegen Netanjahu und Gallant sei wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Zeitraum vom 8. Oktober 2023 bis mindestens 20. Mai 2024 ergangen, erklärte das Gericht. Es habe "hinreichende Gründe" für die Annahme gefunden, dass die beiden Politiker "die strafrechtliche Verantwortung" für das Kriegsverbrechen Aushungern als Kriegsmethode sowie für Tötung und Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit hätten.
Netanjahu und Gallant trügen zudem die Verantwortung für "gezielte Angriffe gegen die Zivilbevölkerung", erklärte das Gericht. Ferner hätten beide "absichtlich und wissend" der Zivilbevölkerung im Gazastreifen lebenswichtige Dinge wie Essen, Wasser, Medikamente, Treibstoff und Strom vorenthalten.
In einer weiteren Mitteilung hieß es, das Gericht habe "einstimmig einen Haftbefehl gegen Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri, allgemein 'Deif' genannt, ausgestellt". Dabei gehe es um "Verbrechen gegen die Menschlichkeit und mutmaßliche Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des Staates Israel und des Staates Palästina seit dem 7. Oktober 2023".
Das Gericht hat nach eigenen Angaben Grund zur Annahme, dass Deif für folgende Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sei: Tötung, Vernichtung, Folter, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt. Es gebe zudem hinreichende Gründe zur Annahme, dass er Kriegsverbrechen wie Mord, unmenschliche Behandlung, Folter, Geiselnahme, Angriffe auf die persönliche Würde, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt begangen habe.
Die Angriffe der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 seien "Teil einer Massentötung von Mitgliedern der Zivilbevölkerung" gewesen, erklärte der IStGH. Es gebe "hinreichende Gründe zur Annahme, dass das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Vernichtung begangen wurde". Auch die Geiselnahmen seien ein Kriegsverbrechen.
Der Chefankläger des Gerichts, Karim Khan, hatte am 20. Mai wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit und mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant beantragt, nun wurden sie erlassen. Gallant war Anfang November von Netanjahu als Verteidigungsminister entlassen worden.
Khan hatte zudem Haftbefehle gegen führende Hamas-Mitglieder wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt, unter ihnen Deif. Die israelische Armee erklärte, Deif am 13. Juli bei einem Luftangriff im südlichen Gazastreifen getötet zu haben. Die Hamas dementiert jedoch, dass ihr Militärchef tot ist.
Die Anträge auf Haftbefehle gegen die Hamas-Anführer Ismail Hanija und Jahja Sinwar wurden fallen gelassen, nachdem ihr Tod bestätigt worden war.
Netanjahu wies in einer Mitteilung "die absurden und falschen Aktionen und Anschuldigungen mit Abscheu zurück". Ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA sagte, aus Sicht Washingtons sei der IStGH "in dieser Angelegenheit nicht zuständig". Weder Israel noch sein wichtigster Verbündeter, die USA, sind Mitglied des IStGH.
Eine Sprecherin der Angehörigen von 300 Opfern des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023 sagte, der Haftbefehl gegen Deif sei "extrem bedeutsam". Er zeige, dass "die Stimmen dieser Opfer gehört werden", sagte Yael Vias Gvirsman. Sie vertritt die Opfer als Anwältin beim IStGH. Wegen der Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant seien die Gefühle ihrer Mandanten "sehr gemischt", fügte sie hinzu.
Die Palästinenserbehörde begrüßte die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant. Sie stünden für "Hoffnung und Vertrauen in internationales Recht und seine Institutionen", erklärte die Behörde laut der Nachrichtenagentur Wafa. Die Hamas bezeichnete die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant als "wichtige Etappe auf dem Weg zur Gerechtigkeit". Auf den Haftbefehl gegen Deif ging die radikalislamische Palästinenserorganisation mit keinem Wort ein.
Bei dem beispiellosen Großangriff der Hamas und weiterer militanter Palästinensergruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 waren nach israelischen Angaben 1206 Menschen getötet und 251 Menschen als Geiseln genommen worden.
Israel geht seit dem Hamas-Angriff massiv militärisch im Gazastreifen vor. Dabei wurden nach Angaben der Hamas-Gesundheitsbehörde, die nicht unabhängig überprüft werden können, mindestens 44.056 Menschen getötet.
Der Chefankläger appellierte an die Mitgliedstaaten, den Haftbefehl durchzusetzen. Der IStGH hat keine eigene Polizei und ist deshalb auf die Kooperation der 124 Mitgliedstaaten angewiesen.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell rief alle Mitgliedsländer auf, die Haftbefehle zu achten. Die IStGH-Entscheidung sei rechtsverbindlich, sagte er in der jordanischen Hauptstadt Ammann. Alle EU-Staaten seien als Vertragsparteien "verpflichtet, die Gerichtsentscheidung umzusetzen".
(V.Castillon--LPdF)