Bundesverfassungsgericht: Betreute müssen für Zwangsbehandlung nicht immer in Klinik
Betreute Menschen müssen nicht in jedem Fall stationär ins Krankenhaus, wenn sie zwangsweise medizinisch behandelt werden müssen. Die entsprechende gesetzliche Regelung ist zum Teil mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag entschied. Ausnahmen sind demnach in bestimmten Fällen möglich. (Az. 1 BvL 1/24)
Rechtlich betreut werden Menschen, die wegen Krankheit oder Behinderung nicht alles selbst entscheiden können. Das können zum Beispiel Menschen mit einer schweren psychischen Krankheit sein, mit einer geistigen Behinderung oder mit Demenz. Wenn sie dringend medizinisch behandelt werden müssen, aber nicht einwilligen, können sie zwangsweise behandelt werden.
Dafür gelten hohe Hürden. Zwangsbehandelt werden dürfen Menschen nur dann, wenn die Behandlung unbedingt notwendig ist, weil sonst ein ernster gesundheitlicher Schaden droht, und wenn der Nutzen das Risiko überwiegt. Außerdem muss zuvor versucht werden, die Betroffenen zu überzeugen. Nur wenn sie die Notwendigkeit nicht erkennen oder nicht danach handeln können, darf zwangsweise behandelt werden.
Bislang war vorgeschrieben, dass eine solche Behandlung ausnahmslos in einem Krankenhaus stattfinden muss. Nur um diese Frage ging es in Karlsruhe. Der Betreuer einer Frau mit paranoider Schizophrenie hatte sich an den Bundesgerichtshof (BGH) gewandt. Die Frau musste mehrmals zwangsbehandelt werden.
Der Betreuer wollte, dass ihr die Medikamente gegen die Psychosen - die sie nicht nehmen wollte - in ihrer Wohneinrichtung verabreicht werden dürfen. Die Frau werde in der Klinik retraumatisiert, gab er an. Sie habe teils fixiert werden müssen und einen Spuckschutz bekommen, um zur zwangsweisen Behandlung gebracht zu werden.
Der BGH legte die Frage dem Verfassungsgericht vor. Dieses entschied nun, dass die Regelung bis Ende 2026 geändert werden muss, bis dahin gilt das bisherige Recht. Das Verfassungsgericht definierte die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Behandlung in der Wohneinrichtung. Erstens müsse den Betroffenen in der Klinik eine große Beeinträchtigung ihrer körperlichen Unversehrtheit drohen und dieses Risiko müsse in der Einrichtung deutlich niedriger sein.
Als Beispiel für ein solches Risiko führte das Gericht an, dass Demenzkranke durch einen Ortswechsel extrem verwirrt werden könnten. Im Krankenhaus drohe unter Umständen auch die Ansteckung mit einer Infektionskrankheit. Müssten Betroffene mit körperlichem Zwang dorthin gebracht werden, könnten sie dabei außerdem verletzt werden.
Zweite Voraussetzung für eine mögliche Ausnahme ist, dass die Wohneinrichtung eine gute medizinische Versorgung bietet. Der Krankenhausstandard müsse nahezu erreicht werden, erklärte das Gericht.
Die Frage des BGH bezog sich zwar auf eine frühere Regelung. Die seit 2023 geltende Neuregelung ist aber gleich, über beide entschied das Verfassungsgericht nun. Es betonte, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen an strenge Voraussetzungen gebunden und "nur als letztes Mittel zulässig" sind.
Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener kritisierte das Urteil scharf. Damit sei auch außerhalb von Kliniken eine zwangsweise Verabreichung von Medikamenten oder eine Fixierung, zum Beispiel zu Hause, gestattet. "Die Schutzpflicht des Staats gegenüber den Bürgern wird mit diesem Urteil auf perfide Weise ins Gegenteil verkehrt", erklärte Vorstandsmitglied René Talbot.
(E.Beaufort--LPdF)